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Bundesdirektorenkonferenz: Behandlung und Versorgung von Menschen mit herausforderndem Verhalten

Die fachliche Frühjahrstagung der Bundesdirektorenkonferenz, Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie (BDK) stand in Gänze unter dem Titel: Behandlung und Versorgung von Menschen mit herausforderndem Verhalten.
Die Referentinnen und Referenten brachten spannende Daten und Fakten aus verschiedenen Bundesländern ein (v.l.n.r.): Dr. Sylvia Claus, Prof. Dr. Marc Ziegenbein, Prof. Dr. Peter Brieger, Judith Mohr, Prof. Dr. Gerhard Längle, Dr. Hubertus Friedrich und Dr. Thorsten Sueße. (Foto: Wahrendorff/Martin Bargiel)

Am 11. und 12. Mai 2023 versammelten sich 62 leitende Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie zur Frühjahrstagung in ihrer Bundesdirektorenkonferenz in Sehnde in der Region Hannover. Gastgeber war in diesem Frühjahr Wahrendorff, das mit Klinikum, Wohnen und Tagwerk ein großer Komplexversorger in Psychiatrie und Psychosomatik ist und sowohl auf klinische Akutpsychiatrie als auch auf eine differenzierte Eingliederungshilfe mit einem großen Heimbereich spezialisiert ist. Der Bedarf an geschützten Plätzen ist groß. Wahrendorff Wohnen hat über 500 Heimplatzanfragen im Jahr. Etwa 70 Prozent sind Anfragen aus Kliniken, die selbst nicht genügend Kapazitäten haben für eine intensive geschlossene Weiterbetreuung im Sinne der stationären Eingliederungshilfe.

Die fachliche Frühjahrstagung der Bundesdirektorenkonferenz, Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie (BDK) stand in Gänze unter dem Titel: Behandlung und Versorgung von Menschen mit herausforderndem Verhalten. In der Akutpsychiatrie sehen sich Ärzte und Fachkräfte immer wieder mit der Herausforderung konfrontiert, Patienten entlassen zu müssen, für die es keine adäquate Unterkunft oder geeignete therapeutische Angebote gibt. Das betrifft z. B. Menschen mit einer Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Erkrankung, Menschen mit schweren affektiven Störungen wie einer bipolaren Störung, Menschen mit einer schweren Angst- oder Zwangsstörung sowie Menschen mit einer schweren Persönlichkeits- und/oder Traumafolgestörung und suchtgeschädigte Menschen. Oftmals ist das den unterschiedlichen Landesmodellen in der Eingliederungshilfe und/oder den zu wenig verschränkten Sozialgesetzbüchern geschuldet. Diese Situation führt zu einem Teufelskreis, in dem Patienten länger als nötig in der Akutpsychiatrie verbleiben. Das blockiert zum einen die Betten in der Akutpsychiatrie und zum anderen benötigen die Menschen eine langfristig ausgelegte rehabilitative und spezialisierte Versorgung. Diese Patientengruppe, immer wieder als „Systemsprenger“ bezeichnet, umfasst Menschen, deren Bedürfnisse und Anforderungen oft über die traditionellen und bestehenden Versorgungsstrukturen hinausgehen und die eine beschützende Wohnform benötigen.

Versorgung und Betreuung von Menschen in psychiatrischen Einrichtungen koordiniert verbessern

Die Frühjahrstagung brachte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer daher auch mit der Politik zusammen. Im Jahr 2021 gaben die Eingliederungshilfeträger laut Kennzahlenvergleich 2023 der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) für die besonderen Wohnformen rund 8,3 Milliarden Euro aus, Tendenz steigend. „Wir können Konzepte erarbeiten, aber wir benötigen die Politik, die uns erhört und mit uns Versorgung gemeinsam gestaltet“, forderte Dr. med. Sylvia Claus, Vorsitzende der Bundesdirektorenkonferenz in ihrer Begrüßung gemeinsam mit Prof. Dr. Marc Ziegenbein, Ärztlicher Direktor und Chefarzt vom Wahrendorff Klinikum. „Das Thema psychische Erkrankungen ist von großer Bedeutung für die Gesellschaft“, bestätigte Olaf Kruse, Bürgermeister der Stadt Sehnde in seinen Grußworten, dem sich Steffen Krach, Präsident der Region Hannover in seinem Impulsreferat anschloss: „Es ist wichtig, die Gesellschaft für die Situation psychisch erkrankter Menschen zu sensibilisieren. Durch eine offene und vorurteilsfreie Diskussion können wir Stigmatisierung verhindern und eine inklusivere Gesellschaft fördern. Um die Versorgung für Menschen in psychiatrischen Einrichtungen zu verbessern, braucht es eine umfassende und koordinierte Anstrengung von allen Beteiligten. Nur so können wir den Betroffenen die dringend benötigte Unterstützung bieten. Die aktuellen Veränderungen in der Gesellschaft und die damit einhergehende Zunahme von psychischen Erkrankungen zeigen: Das Thema betrifft uns alle. Wir müssen daher gemeinsam an einem Konzept für 2030 arbeiten.“

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Die Teilnehmer der BDK-Frühjahrstagung kamen zum fachlichen Austausch zusammen und formulierten Forderungen an die Politik für eine koordinierte Versorgung von psychiatrisch erkrankten Menschen. (Foto: Wahrendorff/Martin Bargiel)

Die Fachvorträge und anschließenden Diskussionen brachten Fakten und Daten aus verschiedenen Bundesländern in die Tagung ein und machten deutlich, dass die Träger von besonderen Wohnformen häufig allein in der Verantwortung stehen, mit schwierigen Situationen umzugehen. Oftmals sind für diese Menschen mit herausforderndem Verhalten der Teilhabeauftrag, der gesellschaftliche Auftrag (Schutz vor Fremdgefahr) nicht zu erfüllen und der therapeutische Auftrag unklar. Prof. Dr. Peter Brieger. Ärztlicher Direktor des kbo-Isar-Amper-Klinikums in Bayern machte in seinem Vortrag „Versorgung in und durch Heime – überflüssig, notwendig, zu rar?“, deutlich, dass im System klare leitliniengerechte Vorgaben benötigt werden und weniger diffuse Kostenträgerschaften, die auch empirische Erkenntnisse zu den Bewohnern geschlossener Heime oftmals unmöglich machen. Basis seiner Ausführungen war ein Forschungsauftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege zum Thema „Freiheitsentziehende Maßnahmen in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung.“ Ein interdisziplinäres Forschungsteam von transfer – Unternehmen für soziale Innovation, der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und des kbo-Isar-Amper-Klinikums mit sozialpädagogischer, juristischer, medizinischer sowie sozialwissenschaftlicher Expertise und Erfahrung im Untersuchungssetting legten dazu im Juni 2022 einen Abschlussbericht vor. „Auch wenn eine Notwendigkeit nach geschlossenen Heimplätzen besteht, bedarf dieser Bereich einer genaueren Untersuchung“, fasste Professor Brieger zusammen. „In unserer Untersuchung lebten 6 von 46 Menschen mehr als 30 Jahre in solchen Heimen und 25 von 46 Bewohnern stammten aus anderen Regionen oder Bundesländern. Und es leben auffällig viele junge Menschen im Heim, fernab und ohne Bezug zur eigentlichen Heimat.“

Ziel ist eine personenzentrierte Psychiatrie

Wie wesentlich eine Zusammenarbeit verschiedener Akteure und vor allem auch Systemkenntnis ist, zeigten Prof. Dr. Gerhard Längle, Stellvertretender Geschäftsführer vom ZfP Südwürttemberg und Dr. Hubertus Friedrich, Ärztlicher Direktor Zwiefalten, ebenfalls vom ZfP Südwürttemberg in ihrem gemeinsamen Vortrag „Verschränkte Versorgung in SGB V und SGB IX – eine Chance für die abgestimmte Behandlung und Betreuung ehemaliger „Systemsprenger*innen“ auf. An einem konkreten Beispiel einer 32-jährigen Patientin, die im 13. Lebensjahr erstbehandelt wurde, machten die beiden Referenten deutlich, dass ein systemüberschreitendes Denken und Abstimmung des Vorgehens (SGV/SGB IX) und eine enge Abstimmung psychiatrisch-psychotherapeutischer, psychosozialer und pädagogischer Behandlungs- und Betreuungsansätze sowie eine hohe Zuverlässigkeit der Abläufe und der Absprache, eine zeitnahe und verlässliche Dokumentation und Information helfen konnten, die Patientin mit schwerer Persönlichkeit vom Borderline-Typ und wiederholenden psychotischen Episoden, chronischer Suizidalität, phasenweise ausgeprägtem Suchtmittelmissbrauch, schwer herausforderndem Verhalten mit Selbstverletzung, fremdaggressivem Verhalten mit Grenzgängigkeit zur Unterbringung in
forensischer Psychiatrie in ihren Kompetenzen und Begabungen so zu fördern, dass nach Jahren der stationären Intensivbetreuung im Heim und Klinik eine Versorgung weitgehend in ambulanten Strukturen möglich ist. Ziel sei eine „personenzentrierte Psychiatrie“, die Behandlungs- und Rehabilitationselemente bedarfsgerecht und taggleich bereitstellt und Hilfe zu einem möglichst selbstbestimmten, zufriedenen Leben in Normalität bringt. Dafür benötigt es ebenfalls strukturelle Veränderungen im Case Management, wie eine organisatorische Verschränkung von Angeboten und Systemen, eine Abstimmung, Integration, Parallelnutzung der verschiedenen Dokumentationssysteme, eine einzelfallbezogene abgestimmte Abrechnungssystematik und SGB-konforme Behandlungs- und Interventionspläne.

In einem weiteren Vortrag stellte Dr. med. Thorsten Sueße, Fachdienstleiter Sozialpsychiatrischer Dienst der Region Hannover, die Arbeit des Dienstes vor und zeigte mögliche Organisations-Modelle eines zukünftigen Gemeindepsychiatrischen Zentrums auf, die die Versorgung ansonsten schwer zu unterstützender Patientengruppen verbessern soll, der ambulanten Hilfe vor Ort den Vorrang geben, Zwang und Hospitalisierung verhindern sollen, indem rechtskreisübergreifende Hilfen niedrigschwellig von einem multiprofessionellen Team personenzentriert angeboten werden.

Stress reduzieren und maximale Konsistenz im Team

Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besonderen Wohnformen besteht in der Betreuung und Versorgung von Menschen mit herausforderndem Verhalten auch eine eigene Gefährdungslage und vor allem eine hohe psychische Belastung. Wahrendorff Wohnen arbeitet modellhaft in einem offenen Wohnbereich für Frauen mit Traumfolgestörungen mit psychologisch unterstützenden Angeboten. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt es Entlastungsgespräche, regelhafte und bedarfsabhängige Intervisionen, Inhouse-Fortbildungen zur validierenden Gesprächsführung und tägliche psychologische Begleitung in der Übergabe. Im Rahmen des psychologischen Gesamtkonzepts wurde ein therapeutischer Dienst für alle Mitarbeiter implementiert. „Ziel ist es, den Stress zu reduzieren und eine maximale Konsistenz im Team zu schaffen“, so Judith Mohr, Psychologin in der besonderen Wohnform für Frauen mit Traumafolgestörungen in ihrem Vortrag „Care for and about your Teams – Warum braucht es Psychologische Konzepte in der Eingliederungshilfe“?

In der Abschlussdiskussion wurden deutliche Forderungen formuliert. Es bedarf mehr Wohnraum und gesellschaftliche Akzeptanz, um Übergänge in kleinere besondere Wohnformen zu schaffen. Politik und Verwaltung müssen mit den Fachleuten an einen Tisch, um zu neuen Strukturen und Förderungen der Eingliederungshilfe in der regionalen Versorgung zu gelangen. Für viele der guten Modelle mit hohem Personalaufwand durch intensivierte therapeutische Maßnahmen gibt es derzeit in den geschlossenen Wohnbereichen für die Versorgung und Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten keine höhere Vergütung als im offenen Bereich. Das geht an der Realität vorbei und verhindert Veränderung.

Mehr Informationen: bdk-deutschland.de 

Pressemitteilung und Downloads

Pressemitteilung Frühjahrstagung Bundesdirektorenkonferenz
Pressefoto 1 Frühjahrstagung Bundesdirektorenkonferenz
Pressefoto 2 Frühjahrstagung Bundesdirektorenkonferenz

 

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